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Artikel der MainPost vom 20.06.2017 – Kurz vor dem Abitur stand Sonja Liebig vor zwei Alternativen: Sollte sie Buchhändlerin werden? Eine Lehrstelle wäre ihr sicher gewesen. Oder sollte sie ein freiwilliges soziales Jahr absolvieren? Schließlich entschied sie sich für Letzteres: „Ich begann, in einer Sozialstation zu arbeiten.“ Diese Erfahrung prägte sie entscheidend.

Liebig kam dadurch erstmals hautnah mit sterbenden Menschen in Berührung. Das zu verkraften und zu verarbeiten, sei sehr schwer gewesen, sagt sie.

Mehr als 20 Jahre liegt diese Erfahrung zurück. Momentan denkt die Mitarbeiterin des Würzburger Krisendienstes jedoch wieder häufig an die damalige Zeit. „Ich frage mich, wie all die jungen Kolleginnen und Kollegen, die in der Flüchtlingsarbeit tätig sind, das verarbeiten, was sie von Geflüchteten über deren traumatische Erlebnisse hören“, meint sie. Leicht könne es passieren, dass das Trauma des Flüchtlings auf den Sozialarbeiter „überspringt“. Im Fachjargon nennt sich dieses Phänomen „Sekundärtraumatisierung“.

Durch den Zuzug der Flüchtlinge, aber auch durch die zunehmende Komplexität der „Fälle“ in der sozialen Arbeit gewinnt das Phänomen „Sekundärtraumatisierung“ aktuell an Brisanz. Flüchtlinge konfrontieren Sozialarbeiter und Ehrenamtliche mit Realitäten, die ihnen bis dato völlig unbekannt waren. Geflüchtete Jugendliche erzählen zum Beispiel davon, dass sie zugesehen haben, wie ihr Vater oder ihre Mutter im Krieg umgebracht wurden. Sie schildern, unter welchen Gefahren sie die Flucht bewältigt haben. Manche sahen, wie andere Menschen neben ihnen auf der Flucht starben. Andere bangten im engen Kofferraum eines Autos bei stundenlanger Fahrt um ihr Überleben.

Vernachlässigtes Thema

Angeregt von einer Studentin, die ihre Bachelorarbeit über Sekundärtraumatisierungen schrieb, beschloss Sonja Liebig, einen ersten Würzburger Fachtag über dieses bislang vernachlässigte Thema zu organisieren. Mitstreiterinnen fand sie in der Arbeitsgruppe „Frauen in der psychosozialen Versorgung“, deren zweite Vorsitzende sie ist. Am 21. Juni wird der Fachtag im Kloster Oberzell stattfinden. Bis zu 100 Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter aus verschiedenen Bereichen werden dazu erwartet.

So hart das, was sie selbst als Jugendliche im FSJ erfahren hatte, auch war, beschloss Sonja Liebig dennoch, an der Würzburger Fachhochschule Soziale Arbeit zu studieren. Direkt nach dem Studium war sie zunächst in einem vergleichsweise „harmlosen“ Feld tätig: „Ich wurde Bildungsreferentin bei der Katholischen Landjugendbewegung in der Diözese.“ Die Arbeit war spannend, sehr politisch und brachte sie in Kontakt mit interessanten Menschen. Doch nach vier Jahren entschied Liebig, sich weiterzubilden, um noch tiefer in das Feld der sozialen Arbeit einzudringen. Sie absolvierte einen Kurs in klientenzentrierter Gesprächsführung.

Dann wurde eine Stelle beim Würzburger Krisendienst frei. „Oh Gott, das willst du wirklich machen?“, hörte Liebig, als sie sich darauf bewarb. Die Arbeit beim Krisendienst gilt als besonders anspruchsvoll. Hierher kommen Menschen, die ihre eigene Situation als so ausweglos empfinden, dass sie darüber nachdenken, sich das Leben zu nehmen. Angehörige lassen sich beraten, weil sie Schreckliches hinter sich haben. Sie fanden zum Beispiel ihren Lebenspartner, nachdem der sich umgebracht hatte. Oder ein Sohn starb bei einem schweren Verkehrsunfall. „Wir bekommen sehr intensiv von persönlichen Katastrophen mit“, sagt Liebig.

Arbeiten im Team ist erforderlich

Die Arbeit sei nur dann gut zu bewältigen, wenn sie in einem Team stattfindet, das zusammenhält. „Unabdingbar ist außerdem Supervision“, so die Sozialarbeiterin. Beim Krisendienst gibt es im Durchschnitt einmal im Monat Supervision. Das ist Liebig zufolge längst nicht in allen Einrichtungen üblich, in denen Mitarbeiter mit traumatisierten Klienten zu tun haben. Aus Kostengründen wird Supervision teilweise nur selten oder gar nicht angeboten.

Sozialarbeiter und auch Ehrenamtliche, die keine Möglichkeit haben, über das, was sie belastet, zu sprechen, drohen, irgendwann dieselben Symptome wie ihre traumatisierten Klienten zu entwickeln. „Sie können zum Beispiel selbst nicht mehr schlafen, sind unruhig oder leiden unter Appetitlosigkeit“, schildert Liebig. Dauern die Belastungen an, kann es zum Burnout kommen. Sonja Liebig kennt einige Kollegen aus Mainfranken, die längere Zeit pausieren mussten, wie, sie das, was sie tagtäglich erfahren hatten, irgendwann einfach nicht mehr verkraften konnten.

Fachtag

Der Fachtag zum Thema „Sekundärtraumatisierung“ findet am Mittwoch, 21. Juni, 9.30 bis 15.30 Uhr, im Haus St. Klara des Klosters Oberzell statt. Organisiert wird er von der Arbeitsgruppe „Frauen in der psychosozialen Versorgung“ innerhalb der Psychosozialen Arbeitsgemeinschaft Mainfranken. Am Vormittag zeigt Traumatherapeutin Andrea Kerres von der Katholischen Stiftungshochschule München auf, wie sich sekundäre Traumatisierungen zeigen. Am Nachmittag wird das Thema in Workshops vertieft. Interessierte können noch zum Vortrag dazukommen. Anmeldungen für die Workshops nimmt Sonja Liebig unter Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein! entgegen.

Pat Christ

veröffentlicht in der MainPost am 20.06.2017

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